Und plötzlich ist in Marbach viel mehr Kunst… und Sicht!

Das Marbacher Lugplätzle ist aussichtsreicher Schauplatz der Kunst geworden! Dass der beschauliche Ort ansonsten nicht hält, was sein Name verspricht, wissen alle Marbacher*innen, die den Platz rund um das offene Bücherregal in der Wildermuthstraße kennen. Begegnungen und horizonterweiternde Kommunikation, wenn’s gut läuft, ja – aber Aussichtspunkt im wortwörtlichen Sinne ist das heutige Lugplätzle nicht. Grund dafür ist eine Eibe, die dort, wo der Blick theoretisch über die Stadt schweifen könnte, mit düsterer Konsequenz die Sicht verstellt. Im Schatten dieser Eibe hat sich das Lugplätzle über die Jahre zu einem beschaulichen Ort entwickelt. Ein ruhiger Platz, an dem sich die Blicke weniger in die Umgebung als still nach innen richten und schöne Aussichten in erster Linie aus geöffneten Bücherdeckeln resultieren. Es werde Sicht, mag sich daher schon so manche Marbacher*in am Lugplätzle stehend gewünscht haben. Doch wie lässt sich eine wüchsige Eibe kontrollieren, ohne ihr gewaltsam an Stamm und Wurzel zu gehen? Aktuell versucht die Kunst, den Baum am Lugplätzle auf ästhetisch-sanfte Art zu lichten.

Seit gut drei Wochen ist es da, plötzlich, über Nacht – das Kunstwerk am Lugplätzle! Beim Betrachten der Installation bleibt der Blick zunächst an dem zentralen Gemälde hinter der Bank zwischen den Bücherregalen haften. Das großformatige Bild zeigt eine ländlich geprägte Straßenszene. Im Vordergrund ist ein Weg mit angedeutetem Kopfsteinpflaster, zwei jungen Mädchen und einem leeren Kinderwagen zu sehen. Der Weg verläuft von vorne links leicht diagonal nach rechts durchs Bild. Hinter den Mädchen bewegt sich ein Ochsenkarren vor einigen Häusern ebenfalls von links nach rechts. Höchstes und alles überragendes Gebäude ist eine Kirche, deren spitz zulaufender Turm aus der Mitte ein wenig nach rechts verschoben ist. Der Himmel über der Szene ist durch einige breite Pinselstriche angedeutet. Die Darstellung auf hellbraunem Grund erfolgt, neben Flieder und Spuren von kräftigem Blau, überwiegend in Weiß und unterschiedlichen Grautönen.

Ortskundige registrieren sofort, dass es sich bei der abgebildeten Kirche mit dem markanten Turm um die Alexanderkirche handelt. Stellt das Bild also eine Marbacher Straßenszene dar? Im Gespräch über das Bild wurde zum Beispiel auch die Niklastorstraße mehrfach als wiedererkannt genannt. Einigkeit herrscht zudem in der Annahme, dass der Ochsenkarren, der Kinderwagen und die Kleidung der Mädchen starke Indizien für eine historische Stadtansicht sind. Doch was ist mit dem Blickwinkel? Von wo wurde oder wird die dargestellte Szene gesehen? Lässt sich der Blickwinkel des Bildes im heutigen Marbach rekonstruieren? Zur Beantwortung der Frage braucht es gute Orts- und Geschichtskenntnisse. Also Fehlanzeige, wenn ein digitaler Stadtplan das einzige Hilfsmittel zur Orientierung ist. Überraschend nützlich wird der Stadtplan allerdings, wenn die Frage nach dem Blickwinkel vom Bild auf die Umgebung des Bildes, also das Lugplätzle, übertragen wird. Dass dem Platz die Aussicht fehlt, wurde oben schon erwähnt. Nicht erwähnt wurde, was vom Lugplätzle aus gesehen werden könnte, wenn die monumentale Eibe nicht da wäre. Ortskundige wissen sofort Bescheid. Nicht-Ortskundige finden sich jetzt geschwind mit dem Stadtplan zurecht. Et voilà: Neben Abschnitten der Niklastorstraße ist es vor allem die Alexanderkirche, die auf der Blickachse des Lugplätzles liegt. Zufall, dass die Blickachsen von Lugplätzle und Bild übereinstimmen? Gewiss nicht! Denn Ähnlichkeit und Übereinstimmung sind das eine. Der perspektivische Clou besteht jedoch darin, das Bild am Lugplatz zu positionieren und die Blickachsen von Bild und Platz dadurch vollends zur Deckung zu bringen. Im Ergebnis kann das Bild dann zeigen, was vom Lugplätzle aus zu sehen ist bzw. ohne Eibe zu sehen wäre. Und? Die Operation ist gelungen: Mit dem Blick auf die Alexanderkirche gibt das Kunstwerk dem Marbacher Lugplätzle seine ureigene Aussicht durch Eibe und Zeit zurück – eine clevere Illusion und ästhetische Geste der Freundschaft an eine Stadt, die die Kunst und ihre Künstler liebt!

Lugplätzle mit Seiter-Instalation

Doch damit nicht genug: An der rechten Stütze der Lugplatzüberdachung ist ein gerahmtes Foto angebracht. Die historische Schwarz-Weiß-Aufnahme ist ganz offensichtlich Inspiration und Vorlage des Gemäldes im Hintergrund gewesen, denn die Ähnlichkeit zwischen beiden ist groß. Die Echtheit mal vorausgesetzt liefert diese Aufnahme also einen Beleg, der das Gemälde historisch bestätigt und legitimiert. Entpuppt sich die Installation aber auf diesem Wege als „echte“ Hommage ans historische Marbach, schließt sich die Frage nach den beiden Mädchen an. Was machen die Mädchen auf dem Foto? Warum wurden gerade diese Mädchen ausgewählt? Was ist die Geschichte hinter dem Foto? Bei diesen Fragen können digitale Stadtpläne nicht weiterhelfen. Es werden persönliche Erinnerungen getriggert, die das öffentliche Kunstwerk plötzlich zu etwas sehr Zartem, Vertrautem, fast Privatem machen, zu einer Hommage, die eine ganz individuelle historische Komponente hat. Und all das geschieht, ohne dass das Kunstwerk deswegen seinen Reiz für Nicht-Eingeweihte einbüßen würde. Ja, es ist ohne Weiteres möglich, über die Funktion des Bildes vor der Lugplatz-Eibe nachzudenken, ohne die beiden abgebildeten jungen Frauen zu kennen. Alles in allem ist das ein Kunsterleben, das Spaß macht – und direkt an die Künstler: Danke dafür!

Dr. Annette Fiss (SSM)